Der letzte Jolly Boy | Holocaust-Überlebender spürt Orten des Schreckens nach

Nachricht 18. November 2018

Filmvorführung im Stadttheater Wunstorf mit anschließendem Regie-Gespräch am 9. November 2018

Als Referenzschule Film haben wir Zugang zu besonderen Filmen, die wir im Rahmen einer Schulkino-Veranstaltung vor Ort und auch für andere Schulen zugänglich zeigen können.

Am 9. November, einem historisch so vielschichtig bedeutsamen Datum und eben auch der 80.Jahrestag der „Reichspogromnacht“, haben unsere Schülerinnen und Schüler einen beeindruckenden Dokumentarfilm sehen dürfen, der am Abend zuvor seine deutsche Kino-Premiere hatte: Der letzte Jolly Boy.

Sie haben eine Filmreise gedanklich begleitet, auf der Leon Schwarzbaum, heute 97jähriger Holocaust-Überlebender, den Regisseur Hans-Erich Viet und dessen Filmteam über vier Jahre hinweg an Orte seiner Kindheit und vor allem des Schreckens führt.

Titelgebend für diesen mit dem DGB - Filmpreis ausgezeichneten Dokumentarfilm durch deutsche und polnische Geschichte und Gegenwart war, dass Leon Schwarzbaum als Jugendlicher mit seiner „Boygroup“, den „Jolly Boys“, amerikanischen Swing interpretiert hat. Die Eingangsszene des Films zeigt, wie Leon Schwarzbaum mit Gefangenen im Gefängnis Zeithain spricht, die ihn eingeladen hatten, wie wir im Gespräch erfahren. Ganz nebenbei führt der Regisseur schon hier symbolträchtig den Blick auf den Stacheldraht ein, der später historisch mit ganz anderem Vorzeichen verdichtet wiederkehrt, und ebenso das Motiv des Sperlings, der zu sein sich Schwarzbaum in seiner Zeit in Auschwitz so sehr zu sein gesehnt hat: frei wegzufliegen, ohne dass der Stacheldrahtzaun eine unüberwindbare Grenze wäre.

Es ist beeindruckend, wie viel Energie Leon Schwarzbaum aus der Erinnerung zieht. In seiner Erzählweise vermag er Erlebtes zu vergegenwärtigen. Mehrfach ist er nach Auschwitz gefahren, um zu begreifen, was nicht zu verstehen ist. 35 Familienangehörige wurden ermordet – einzig er hat überlebt.
Der erste Ort, dem Schwarzbaum nachspürt, ist sein Familienhaus im polnischen Bedcin, wohin seine Familie 1924 aus Hamburg-Altona zurückgekehrt war. Er spricht mit den jetzt dort Lebenden, dunkel erinnert sich eine polnisch sprechende Bewohnerin, die dort seit 1944 wohnt, an die ihr wiederum von deren Großmutter erzählte Historie des Hauses. Später treffen sich beide in Bedcin, dem dortigen Ghetto Kamionka, wieder.

Leon Schwarzbaum hat Auschwitz-Birkenau, Buchenwald und Haselhorst überlebt – sowie die Todesmärsche von Auschwitz nach Gleiwitz und von Sachsenhausen nach Schwerin. In Bobrek, einem Außenlager von Auschwitz, musste er Zwangsarbeit für Siemens leisten, was ihm, so schätzt er es selber ein, das Leben gerettet habe.

Unterwegs erinnert Schwarzbaum viele beklemmende Erlebnisse: Die Ermordung eines 16-jährigen jüdischen Mädchens durch einen Genickschuss, nachdem einer der beiden Peiniger dies nicht über sein Herz gebracht hatte, das Bild vieler rauchender Schornsteine der Auschwitz-Krematorien, verbunden mit unerträglichem Geruch verbrennender Opfer. Auf dem Weg durch das Lager sieht er wieder einen Sperling und erinnert sich seiner damaligen Sehnsucht. Im Schlafsaal des KZs Auschwitz ist der dem alten Mann nicht mehr gelingende Versuch, die Schlafstätte in der dritten Etage des Etagenbettes zu erklimmen, beklemmend. Damals habe er diese Bettebene auf dünner Matratze zu siebt geteilt.

Leon Schwarzbaums emotionale Aufgewühltheit wird in der Erwartung der Begegnung mit dem potentiellen Mörder seiner Eltern im Gerichtssaal im Landgericht Detmold besonders groß. Im letzten Auschwitz Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Reinhold Hanning war er einer der Zeugen bzw. Nebenkläger. Auch wenn jener hier sein lebenslanges Schweigen gebrochen habe, sei er nicht ehrlich gewesen, weniger hinfällig als er den Eindruck habe erwecken wollen - und habe nur gesagt, was ihm ohnehin von außen als Schuld habe zugewiesen werden können, so das enttäuschte Resümee Leon Schwarzbaums. Dass er nicht verzeihen kann, versteht der Zuschauer.
Humorvolle und selbstironische Passagen nehmen im Sehprozess die immer wieder überbordende emotionale Spannung, so dass der Film in all seinen Facetten überhaupt aufgenommen werden kann – und unsere Schülerinnen und Schüler am Ende Leon Schwarzbaum durch anhaltenden Applaus höchsten Respekt zollen, aber auch der großartigen Regisseursleistung.

Regisseurgespräch mit Hans-Erich Viet

Während der Filmvorführung im Wunstorfer Stadttheater war Hans-Erich Viet zugegen, merklich bewegt von dem intensiven Zusammensein mit Leon Schwarzbaum und der anschließenden zweijährigen Schnitt-Arbeit an dem Film. 

Es ist ganz besonders – zumal bei diesem so eindrücklich dokumentierenden Montage-Film –, im Anschluss an das Schauen mit demjenigen ins Gespräch zu kommen, der diesen Film in all seinen Phasen gemacht hat. Unsere Schülerinnen und Schüler haben diese ihnen gegebene Möglichkeit für tiefgründige Fragen genutzt und bekamen ausführlich Antwort.

„So einen Film kann man nur einmal machen“, so Hans-Erich Viet auf die Frage zu den Formen der Begegnung mit Leon Schwarzbaum über die so lange Zeit der filmischen Begleitung. 

Auch nahmen unsere Schülerinnen und Schüler das Handwerkliche des Films in den Blick; alle waren sich einig, dass es mit der Montagetechnik gelungen sei, gekonnt spannungsreich Geschichte und Gegenwart miteinander zu verknüpfen.

Gefragt wurde auch, wie die Idee für die Montage-Umsetzung entstanden sei. Ihm sei wichtig gewesen, so Viet, dass die Geschichte sich letztendlich selber zu erzählen vermag, die Detailaufnahmen.

Der Regisseur Hans-Erich Viet, der für ein halbstündiges Regie-Gespräch zur Verfügung stand, ist Absolvent der Deutschen Film- und Fernsehakademie (dffb), Politologe und Chemielaborant. Er hat Seminare u.a. mit Fred Zinnemann, Wim Wenders und Wolfgang Kohlhaase absolviert, veranstaltete Seminare mit Klaus Wildenhahn und Albert Maysles.

Er ist Professor für Spielfilm an der Internationalen Filmschule (ifs) in Köln, gibt Seminare für Drehbuch, Regie und Dokumentarfilm und ist mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Grimme Preis, Preis der Deutschen Filmkritik, dem Niedersächsischen sowie dem SWF Künstlerpreis, Bundesfilmpreis Nominierung, Ministerpräsidentenpreis beim Max Ophüls Festival, DGB - Filmpreis.

Im Anschluss an das Regisseurgespräch hat er unserer Schule seine Filmpatenschaft zugesagt. Wir freuen uns also auf weitere Begegnungen und die Zusammenarbeit mit einem hoch kompetenten und ebenso sensiblen Filmexperten.

Der Stadt Wunstorf danken wir für die städtische Unterstützung. Wir freuen uns, das Stadttheater schon häufig genutzt haben zu dürfen.

(ROT)