„Rosenkohl ess‘ ich nicht!“

26. November 2018

„Rosenkohl ess‘ ich nicht!“, Gerd Klestadt erntet irritierte Blicke meinerseits und schaufelt mir seinen Rosenkohl auf den Teller. Es ist der Vorabend eines Gesprächs zwischen ihm, Überlebender des Holocausts, Klara Köhn, einer Schülerin eines hannöverschen Gymnasiums und gläubige, praktizierende Jüdin und den Jahrgängen 10 bis 13 unserer Schule. Vier von ihnen werden mit auf dem Podium sitzen.

Einige Lehrkräfte sitzen zusammen, mit „Gerd und Charlene“ – das Du ist schnell geklärt, lernen und kennen und essen. Rosenkohl. Rosenkohl, den Gerd nicht mag. Ich steche ihn mit der Gabel auf, führe ihn zum Mund und höre, wie Gerd neben mir sagt: „Weißt Du, den haben die uns in die Lagersuppe getan. Jeden Tag Rosenkohl in Bergen Belsen. Seit dem kann ich ihn nicht mehr essen.“ Ich stocke. Muss schlucken (nicht den Rosenkohl).
Der Abend verläuft ansonsten sehr angenehm, wir lachen viel, freuen uns auf den nächsten Tag und diese ungewöhnliche Möglichkeit, Gerd und Klara bei uns begrüßen zu können.

Gerd Klestadt kam als Kind in das Konzentrations- und Austauschlager Bergen Belsen. Er hat die peruanische Staatsbürgerschaft, da der Vater versuchte Ausreisegenehmigungen zu erwirken und man dann eben mal so eine neue Staatsbürgerschaft kaufen konnte. Die Nationalsozialisten internierten die Familie deshalb in Bergen Belsen, in der Hoffnung in Peru Geld für die Familie zu erpressen. Gerd berichtet von seinem Transport nach Bergen Belsen, seinen ersten Tagen. Von dem Tod seines Vaters und davon, dass er nun zwei Blechnäpfe und zwei Löffel besaß. Aber ein gebrochenes Herz. „Kann man ohne Herz leben?“ – fragt er in die Runde. Er berichtet von seiner Befreiung, von dem Tod der Mutter in den 80er Jahren und dass seine Frau Charlene ihn damals vor die Wahl stellte: Entweder Psychotherapie oder Scheidung. Er wählte ersteres. Die dauerte 10 Jahre. Ein befreundeter Lehrer lud ihn in den frühen 2000er an seine Schule. Der Beginn des Erzählens war holprig. Seit dem sprach er vor mehr als 17000 Schülerinnen und Schülern. Er schenkt jeder Zuhörerin und jedem Zuhörer eine Murmel.

Gerd versteht es gut, die Jugendlichen und auch uns Lehrkräfte mit seinen Erzählungen zu binden. Er berichtet auch vom Rosenkohl, berichtet von seinem weiteren Lebensweg in Israel und Honduras, davon, dass sie „damals“ Fässer als Toiletten benutzt haben, ihnen damit alle Würde genommen wurde. Er fordert uns zu Zivilcourage auf. Sagt mehrmals deutlich, dass „Hitlers Gift“ militärisch geschlagen sei, „im Geiste aber weiterlebt!“.

Nach seinem Bericht steht er für Fragen zur Verfügung. Die Fragen der Jahrgänge sind vielfältig. Sie fragen u.a. danach, wie das Überleben möglich gewesen sei („Das kann ich nicht beantworten.“), nach der Wannseekonferenz, der Wahrnehmung der befreienden Briten, den Todesraten und danach, wie sie an Kleidung kamen oder ob er Freundschaften geschlossen hätte.

Das Gespräch mit Gerd steht in einer Reihe von Veranstaltungen an unserer Schule, die die Auseinandersetzung mit Holocaust, Shoah, Drittem Reich und dessen Nachleben – den Brüchen und Kontinuitäten, über den Unterricht hinaus vertiefen soll. Im Rahmen dieser Reihe organisierten wir die Teilnahme an einem Schülerwettbewerb zur 80. Jährung der Pogromnacht, zu dem Plakate erstellt werden sollten, die Ausgrenzung und Zivilcourage zum Thema haben.
Das reflektierende Erinnern der Schülerinnen und Schüler soll durch solche Veranstaltungen gefördert werden. Mit reflektierendem Erinnern ist gemeint, eine Auseinandersetzung mit der Thematik „Drittes Reich“ anzustoßen, die über das reine Aneignen von Wissen oder die Annahme einer falschen Schuld oder eines falschen Verantwortungsgefühls und bloßen Lippenbekenntnissen in Bezug auf das Gedenken hinaus gehen soll. Wir sind der Überzeugung, dass diese Reflexion eine sogenannte „Schlussstrichmentalität“ verhindern wird und sich Jugendliche, die über diese Reflexionskompetenzen verfügen, gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeiten standhaft und solidarisch gegenüber stellen können. Die Auseinandersetzung mit Geschichte ist dabei nur ein Standbein.
In Verbindung mit dem Gespräch mit Gerd luden wir Klara Kohn ein. Klara ist die Tochter eines Auschwitz- und Dachau-Überlebenden und repräsentierte die zweite Generation, gleichwohl sie noch sehr jung ist. Sie kam nach Gerds Bericht auf das Podium und erzählte aus ihrem Alltag als gläubige Jüdin und direkte Nachfahrin eines Überlebenden in Hannover. Durch ihren Vater und die Zugehörigkeit zu einer jüdischen Gemeinde verfügt sie über einige weitere Freundschaften zu Überlebenden, von denen sie auch berichtete.
Es dauerte nicht allzu lang, als die Gräben zwischen den Generationen aufbrachen. Während Klara voll und ganz dafür war, eine Kipa oder andere jüdische Symbole öffentlich tragen zu können (und in gewisser Weise auch zu müssen), waren Gerd und Charlene da anderer Ansicht. Sie vertraten den Standpunkt, Symbole eines Glaubens seien Privatsache und gehörten deshalb nicht sichtbar getragen. Wolle man das tun und wolle man keine Angst vor Übergriffen haben, solle man in die Viertel ziehen, in denen seine Religion toleriert wird. Diese Kontroverse wurde während der Podiumsdiskussion hitzig diskutiert und auch unsere Schülerinnen und Schüler melden sich zu Wort. Dabei wurde vor allem offenbar, dass die Lehren aus dem Holocaust sehr vielfältig sind. Klara berichtete auch, dass andere Überlebende, die sie kennt zu dieser Frage ganz andere Auffassungen haben als Gerd und Charlene. Wir beendeten das Gespräch mit einigen offenen Fragen und der Mahnung an uns selbst, tolerant sein zu wollen (oder müssen), wenn Menschenfeindlichkeiten abgebaut werden sollen.

Die AG „Die Shoah erinnern und reflektieren“ wird im August 2019 die Gedenkstätte des Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz besuchen. Bis dahin wird es in diesem Kreis zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der Geschichte und den gegenwärtigen Auswirkungen kommen. Dabei beschränken wir uns nicht nur auf reine Geschichtswissenschaft, sondern thematisieren auch psychologische Vorgänge beispielsweise des Erinnerns und der Traumabewältigung. Wir stellen uns außerdem Deutschland als Land der Tatorte, Täterinnen und Täter, Mitläuferinnen und Mitläufer und der Zuschauerinnen und Zuschauer. Wir wollen fragen, was davon heute noch geblieben ist und welche Wirkung das auf uns heute noch hat: Das Deutschland, dass sich von der imaginierten „Volksgemeinschaft“ zu einem Einwanderungsland entwickelte und in dem die Schere zwischen Tradition und Innovation, zwischen Beharrlichkeit und Unschlüssigkeit (Generation Y), zwischen links und rechts, Populistisch und unpolitisch, religiös und atheistisch immer weiter auseinander zu gleiten scheint. Das Gespräch mit Gerd, Klara und Charlene bot diesbezüglich viele Ansätze der Reflexion. Auch seitens der Lehrkräfte, die Rosenkohl vielleicht nicht mehr unbedarft essen können.
 

  • Die Veranstaltung wurde vom Schulbund Nord gefördert.
  • Die AG wird von der Stiftung Gedenken und Frieden gefördert.